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Rechenschwäche (Dyskalkulie)


Von einer Rechenschwäche ist auszugehen, wenn es zu Lernstörungen im Bereich des Verstehens, Erlernens und Anwendens der Grundrechenarten kommt. Auch hier liegt bei der Diagnose durch einen anerkannten Kinder- und Jugendpsychologen gem. dem ICD 10 (F81.2) die Diskrepanztheorie zugrunde, derzufolge eine Rechenschwäche nur dann diagnostiziert werden kann, wenn die rechnerischen Leistungen eines Kindes in einem standardisierten und normierten Rechentest weit unter dem Wert liegen, der aufgrund des Alters und der Intelligenz zu erwarten wäre. Die verwendeten Intelligenztests beinhalten jedoch i.d.R. auch Aufgaben zur Klassenbildung, Reihenfortsetzung und zum Vergleichen, die auch für die Entwicklung mathematischer Kompetenzen relevant sind. Dadurch kann es dazu kommen, dass der Intelligenzwert so weit nach unten gedrückt wird, dass die Kinder keinen durchschnittlichen IQ mehr erreichen und somit aus der finanziellen Förderung gem. § 35 a BSHG VIII herausfallen. Zudem erachten wir auch die mathematische Förderung von weniger intelligenten Kinder als sinnvoll und lohnenswert. Leider gibt es in NRW bislang noch keinen Dyskalkulie-Erlass und somit keinen Rechtsanspruch auf einen Nachteilsausgleich analog zum LRS-Erlass. Einzelne Schulen gewähren bei Vorlage einer Dyskalkulie-Diagnose jedoch Erleichterungen wie z.B. einen Zeitaufschlag bei Klassenarbeiten oder Schüler-spezifische Aufgabenstellungen.

Nicht nur Kinder, auch Erwachsene denken oftmals mit Schaudern an ihren Mathematikunterricht zurück. Schwierigkeiten im Rechnen sind aber meist nicht auf Unlust oder Abneigung gegenüber dem Rechnen zurückzuführen. Bei ca. 5 % aller Schüler liegt eine Entwicklungsverzögerung des mathematischen Denkens vor. Mengen und Zahlen und der dezimale Zahlenaufbau oder das Stellenwertsystem werden oftmals nur unzureichend verstanden. Die Schüler und Schülerinnen verharren beim „zählenden Rechnen“ und beherrschen den 10ner- oder die 100ter-Übergänge nicht. Vielfach werden die Schwierigkeiten der Kinder insbesondere in der zweiten Klasse bei der Erweiterung des Zahlenraums bis 100 besonders deutlich. Spätestens in der dritten Klasse kommt es dann häufig zu gravierenden Problemen, das Kind verzweifelt, wird mutlos und entwickelt psychosomatische Symptome bis hin zur Schulverweigerung. Diese Probleme sind nicht durch verstärktes Üben zu überwinden.
Hier bedarf es fachkundiger Hilfe, die die entwicklungspsychologisch notwendigen Kompetenzen für das Rechnen mit dem betroffenen Kind bearbeiten können. Denn alle mathematischen Kompetenzen bauen systematisch aufeinander auf. Gemäß PIAGET müssen sich bei jedem Kind zunächst die beiden Aspekte der natürlichen Zahlen entwickeln, um das komplexe Konzept der natürlichen Zahlen zu verstehen und sie sinnvoll in Rechenoperationen anzuwenden: Zunächst der „Ordinalzahl“-Aspekt, d.h. dass bspw. die Zahl 7 das 7. Objekt in einer Reihe darstellt. Gleichzeitig besagt aber auch die Zahl 7, dass die Menge 7 Objekte enthält. („Kardinalzahl“-Aspekt). Um den kardinalen Aspekt entwickeln zu können, müssen Kinder in der Lage sein, Klassen zu bilden (Klassifikation) und Objekte nach ihren Eigenschaften zu ordnen (Seriation). Jüngere Kinder bis zum 6. Lebensjahr erfassen Mengen meist noch rein wahrnehmungsgebunden, längere Reihen oder größere Gegenstände erscheinen ihnen als zahlenmäßig größer. Bsp.: Wo sind mehr Tiere auf der Wiese? Auf einer Wiese mit 10 Elefanten oder auf einer Wiese mit 10 Mücken? Erst etwa ab dem 5. Lebensjahr sind Kinder in der Lage, die beiden Mengen auf Gleichheit (Äquivalenz) zu überprüfen, indem sie etwa jeder einzelne Mücke einen Elefanten zuordnen (Stück-für-Stück-Zuordnung) und im weiteren Entwicklungsverlauf auch lernen, beide Mengen abzuzählen und so ihre „Mächtigkeit“ zu erfassen. Hierzu zählen auch die dichotomatische Konjunktionen „gleich viele“, „mehr“ oder „weniger“ und das genaue Benennen von Eigenschaften. Diese pränumerischen Kompetenzen sowie der stufenweise Aufbau des Zahlenbereichs bis 20 sollten auf unterschiedlichen Niveaus mit den Kindern bearbeitet und gefestigt werden: Zunächst die Arbeit mit konkreten Gegenständen (enaktiv), dann auf der bildlichen Ebene (ikonisch) und erst dann mit abstrakten Ziffern (symbolisch).
Ein weiteres Nadelöhr für rechenschwache Kinder entsteht durch den noch nicht beherrschten 10ner-Übergang. Hierzu wie auch in den größeren Zahlbereichen bedarf es der Vermittlung effektiver Rechenstrategien wie bspw. 7 + 8 = 7 + 3 + 5 = 15 (erst bis zur 10 und dann den Rest addieren) oder auch bei der Subtraktion: 15 – 8 = 15 – 5 – 3 = 7. Desweiteren sollte das Rechnen im 20iger-Raum frühzeitig „automatisiert“ sein, um die Analogien in den größeren Zahlenräumen besser beherrschbar werden zu lassen. Zudem sollten auch da effektive Rechenstrategien eingeübt werden, wie bspw. „erst die Einer, dann die Zehner“ oder beim Rechnen mit der 9 erst 10 addieren und dann 1 subtrahieren (Vor-zurück-Strategie). Mit diesen Rechenstrategien gelingt es den Kindern auch zunehmend, vom „zählenden Rechnen“ zum „denkenden Rechnen“ überzugehen.
Grundsätzlich gilt, dass es beim Rechnen nicht um „Auswendiglernen“, sondern um ein verstehendes Rechnen geht. So sollten Schüler und Schülerinnen auch immer in der Lage sein, lebensweltliche Beispiele für die jeweiligen Rechenoperationen zu benennen.

Mit unserer Eingangsdiagnostik erfassen wir in differenzierter Weise einerseits den schon erreichten Lernstand und die jeweiligen Lernrückstände und Fehlerquellen der Schüler und SchülerInnen, um so möglichst punktgenau mit der Förderung dort anzusetzen, wo der Schüler oder die Schülerin steht. Eine kontinuierliche Förderdiagnostik sowie eine Fehleranalyse während der Lerntherapie stellt sicher, dass die Förderung immer wieder aktualisiert und entsprechend dem Lernstand der Schüler und Schülerinnen angepasst wird. Mit zahlreichen mathematischen Lernspielen wird zudem für eine aufgelockerte Lernatmosphäre gesorgt.


Literatur und Links (kleine Auswahl):

A. Fritz, G. Ricken, Rechenschwäche, München, Basel 2008

Helena Harms, Spielend rechnen lernen, Zahlenspaß für Grundschulkinder und ihre Eltern, München, Basel 2008

J. Piaget, A. Szeminska, Die Entwicklung des Zahlenbegriffs beim Kinde, Stuttgart 1975

J. Piaget, Die Genese der Zahl beim Kinde, Westermanns Pädagogische Beiträge 9, 1958, S. 357 - 367

H.D. Gerster, Schülerfehler bei schriftlichen Rechenverfahren – Diagnose und Therapie, Freiburg, Basel, Wien 1982

H.D. Gerster, R. Schultz, Schwierigkeiten beim Erwerb mathematischer Konzepte im Anfangsunterricht, Freiburg 1998

D. Jost (Hg), Mit Fehlern muss gerechnet werden, Zürich 1992

S. Wartha, J. Hörhold, M. Kaltenbach, S. Schu, Grundvorstellungen aufbauen Rechenprobleme überwinden, Zahlen, Addition und Subtraktion bis 100, Braunschweig 2019

D. Götze, Ch. Selter, E. Zannetin, Das KIRA-Buch: Kinder rechnen anders, Verstehen und Fördern im Mathematikunterricht, Hanover 2019

G. Wunderlich, H. Bares, Wo Kinder rechnen lernen, Bd. I: Zu Hause, Embsen-Oerzen 2003

M. Schwarz, Rechenschwäche – Wie Eltern helfen können, Berlin 2001

A. Ebhardt, Fröhliche Wege aus der Dyskalkulie, Dortmund 2005

Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie: www.bvl-legasthenie.de

Kölner Arbeitskreis LRS & Dyskalkulie: www.lrs.koeln

Legakids: www.legakids.net

Familienhandbuch: www.familienhandbuch.de